1) Gabe/Jersey & 2) Gabe/Lynn

Verwirrt runzelte Gabriel die Stirn.
"Schirmchen?", fragte er skeptisch und folgte der Ratte im Gänsemarsch zur Küche.
Allerdings setzte er sich nicht auf Lynns Schulter, sondern auf einen Stuhl, um Lynn und die Ratte etwas verschlafen anzulächeln.
Er konnte es sich nicht erklären, aber er wollte nicht weg hier.
Er fühlte sich wohl, und er mochte Lynn, er bewunderte ihn dafür, dass er ganz allein klarzukommen schien, und dafür, dass er eine eigene Wohnung und eine Ratte hatte, und dass er einen Fremden wie ihn einfach mitnahm und in seiner Wohnung schlafen ließ.
Am liebsten wäre er ab sofort für immer geblieben.

"Schrimchen", bestätigte Lynn und zupfte es Gabriel aus dem Haar, um es vor seine Nase zu halten.
"Das hast du seit gestern Abend da drin stecken", teilte er ihm mit und setzte Pete mit Cracker vor Gabriel auf den Tisch.
"Fütter ihn bitte kurz weiter", bat er und kümmerte sich um den Kaffee.
Während er den Filter in die Tonne warf und Milch, zwei Tassen, Zucker und die Kanne auf den Tisch stellte, beobachtete er die beiden.
"Er kann Kunststückchen", erklärte er Gabriel, nahm ihm einige Krümel aus der Hand und pfiff leise um sich Petes Aufmerksamkeit zu sichern.
"Komm Dickerchen, zeig mal was du kannst", forderte er die Ratte auf und mit viel scherzhaftem Diskutieren, gutem Zureden und Massenwiese Kekskrümeln machte Pete Männchen, Purzelbäume, spiele tote Maus oder hinkte mit dem Hinterfüßchen. Sie zeigten Gabriel ganze Palette der Rattenkunststücke, Pete sprang sogar zwei mal über Lynns Kaffeetasse.
Das dritte mal landete er darin und Lynn zog die Ratte lachend am Schwanz wieder heraus.

"Oh... woher...", wunderte sich Gabriel, als Lynn ein Schirmchen aus seinem Haar zog, und dachte im ersten Moment der andere hätte ihm gerade einen Zaubertrick gezeigt.
"Seit gestern abend???", fragte Gabriel skeptisch und sah Lynn zweifelnd an.
Das hätte er doch merken müssen, oder?
Allerdings widmete er sich dann einer wichtigeren Aufgabe als seine Gedanken zu sortieren und fütterte Pete fasziniert und ein bisschen stolz.
Völlig hin und weg war er dann allerdings, als Lynn ihm Pete's Kunststücke vorführte.
Erschrocken zuckte er zusammen, als Pete schließlich in der Kaffeetasse landete, und sah Lynn ziemlich entsetzt an, bis der kleine Kerl gerettet wurde.
"Ich wusste garnicht, dass Ratten Kunststücke lernen können!", lachte er staunend und streichelte Pete verliebt.

"Natürlich können sie das", erklärte Lynn, während er den fiepsenden Pete unter dem laufenden Wasserhahn den Kaffee auss dem Fell spülte und ihn dann mit einem Küchentuch trocken rubbelte.
"Ratten sind wahnsinnig intelligente Tiere! Was meisnt ud denn, warum sie für so viele Versuche missbraucht werden? Du kannst einer Ratte fast alles beibringen! Wenn sie dann auch noch so verfressen ist wie Pete und alles für Kekse tut, dann ist das wirklich keine Kunst mehr."
Er setzte den zerrupften Pete wieder auf den Tisch und kippte seinen Kaffee aus.
In einer frischen Tasse, goss er sich einen neuen ein und setzte sich wieder.
"Klemm mal ein Stück Keks zwischen deine Finger und halt die Hand etwa einen halben Meter über den Tisch. Wenn er nicht gerade zu faul ist macht er einen Salto.", schlug Lynn dann vor und nahm einen Schluck Kaffee.

Gabriel schmunzelte, als Pete etwas empört und zerrupft wieder auf dem Tisch saß.
Er hätte gern ein Haustier gehabt.
Früher hatte er versucht seine Eltern zu einem Hund zu überreden, dann sollte es eine Katze sein, und zum Schluss hätte er sich sogar mit einem Meerschweinchen oder einem Hasen zufriedengegeben, oder einem kleinen Aquarium.
Er hatte jedoch nie Erfolg gehabt, und irgendwann hatte er andere Sorgen.
Die Vorstellung er hätte ein Haustier gehabt, als Jersey weggezogen war... Sicher wäre alles etwas einfacher gewesen.
Er wäre nicht so einsam gewesen...
Einen Moment lang umspielte ein trauriger Zug seinen Mund, als er Pete nachdenklich ansah, dann nahm er jedoch wirklich einen Krümel und stand auf.
Gespannt beobachtete er Pete und feuerte ihn leise an.

Pete ließ sich eine ganze Weile bitten, dann vollbrachte er jedoch brav sein Kunststück und setzte sich vor Gabriel auf die Hinterfüßchen um sich seinen Keks abzuholen.
Lynn trank währenddessen seinen Kaffee und beobachtete die beiden schmunzelnd.
Pete schien sich wirklich zu freuen endlich ein wenig Gesellschaft außer ihm zu haben. Für gewöhnlich lag er um diese Zeit irgendwo im Weg und pennte.
"Wartet dein Vater auf dich?", fragte er irgendwann, ohne den Blick von dem kleinen grauen Nagetier zu nehmen.

Ausgiebig lobte Gabriel Pete, als dieser tatsächlich einen Salto geschlagen hatte, und natürlich bekam der kleine auch seinen Keks.
Konzentriert legte Gabriel eine Spur aus Krümeln quer über den Tisch, über Papierstapel und Teller, um die Kaffeetasse herum, ein Krümelchen kam in den Henkel.
Erst als er fertig war, konnte er Lynns Frage beantworten und sah auf.
"Hm...", überlegte er.
"Ich glaube nicht, dass er bemerkt, dass ich weg bin... er weiß glaub ich meistens nicht, dass ich noch da bin, wieso?"

"Weil du seit gestern Nacht hier herumlungerst", meinte Lynn, ohne jeden Vorwurf in der Stimme.
"Ich will dich ja nicht rauswerfen, ich dachte nur vielleicht schaust du irgendwann mal wieder zu Hause vorbei?"

Betroffen sah Gabriel den größeren an, aber er fühlte sich hier viel zu... entspannt und Sorgenfrei und... lebendig, als dass er das so leicht aufgeben würde.
"Ich... hab mit Pete gespielt...", verteidigte er sich leise.
"Er bekommt es doch sowieso nicht mit, wenn ich weg bin... und ich... denke ich bleib heute lieber noch weg..."
Vorsichtig blinzelte Gabriel zu Lynn hoch und versuchte gleichzeitig ihn NICHT zu beinflussen, und so harmlos auszusehen, dass Lynn ihn einfach nicht rauswerfen KONNTE.
Er wollte wirklich unheimlich gerne bleiben.
Irgendetwas hielt ihn davon ab zu Jersey zu gehen.
Jersey kannte so etwas einfach nicht, er wollte nicht, dass Jersey den Grund erfuhr und vor ihm schämte sich Gabriel für seinen Vater.
Jersey wusste, wie Gabriels Familie einmal gewesen war...
Hier war es egal.
Pete hatte die Spur zuende geknabbert und zwickte Gabriel jetzt sanft in den Finger.
Leise seufzend streichelte Gabriel den kleinen Kerl.
Er wollte nicht nach hause!
Er wollte sich nicht wieder so einsam fühlen... und als würde er überhaupt nicht existieren.

Nun wagte es Lynn doch skeptisch die Augenbraue nach oben zu ziehen.
"Und wie lange, wenn ich fragen darf, hast du vor hier zu bleiben?"
Lynns Meinung nach war das eine durchaus gerechtfertigte Frage, immerhin fütterte er den Kleinen ja mit durch und gerade dicke hatte er es ja auch nicht.

"So lang wie ich darf.", murmelte Gabriel niedergeschlagen und lächelte wackelig.
"Ich würde gern für immer bleiben, aber ich bin bereit Kompromisse einzugehen.", scherzte Gabriel etwas unsicher und stubste Pete sanft in die Seite.
Er kannte Lynn überhaupt nicht, und er war ihm ein bisschen unheimlich,
aber es gefiel ihm hier.
Und es war allemal besser als zuhause.

Nun wanderte Lynns Augenbraue wirklich sehr weit nachoben.
Er glaubte sich verhört zu haben.
Er HOFFTE sich verhört zu haben!
"Und was für Kompromisse wären das bitte?", fragte er skeptisch.
Falls der Kleine zufällig eine Millionen im Keller hatte und seine Miete übernahm konnte er gerne für immer bleiben, aber ein eigenes Zimmer bekam er nicht und stundenlang das Bad blockieren war auch nicht drin.

"Hm ich... also... das musst du doch sagen...", stammelte Gabriel etwas aus dem Konzept gebracht.
"Das war eigentlich ein Scherz...", merkte er dann vorsichtig an.
"Also... zumindest so halb", brummelte er dann in seinen nicht vorhandenen Bart und malte mit dem Finger Linien vor Petes Nase.
"Darf ich denn Pete mal besuchen?"

"Dann bin ich ja beruhigt", antwortete Lynn, stellte seine leere Tasse in die Spüle und setzte sich wieder an den Tisch.
"Ernsthaft Gabriel", setzte er dann an.
"Du kannst nicht ewig hier bleiben. Dein Vater ist doch nicht generell ein schlechter Mensch, nur weil er ein Alkoholproblem hat... Außerdem muss ich um zehn wieder auf der Arbeit sein."
Er lehnte sich zurück und musterte Gabriel.
"Du darfst ihn gerne besuchen, ja, aber sei so nett und sag vorher bescheid."

"Dann bin ich ja beruhigt", sagte Lynn, und Gabriel nickte niedergeschlagen.
"Natürlich ist er kein schlechter Mensch", protestierte er.
"Aber... er sieht mich doch garnicht... er braucht mich nicht. Ich bin nicht gern zuhause... Normalerweise lauf ich bis abends durch die Stadt, oder schlaf im Park.", murmelte Gabriel hinterher.
"Und darf ich auch dich besuchen?", fragte er dann etwas rot um die Nasenspitze und spielte verlegen mit seinem T-shirtsaum.

"Ja, du darfst auch mich besuchen", antwortete Lynn.
"Und wenn du jetzt nicht sofort aufhörst so bemitleidenswert zu schauen, schmeiß ich dich raus!"
Er zwinkerte ihm zu und holte eine Packung Kekse aus dem Schrank, die er öffnete und auf den Tisch zwischen sie legte.
"Schokokekse darf er nicht essen", erklärte er, da sich Petes Näschen schon in Richtung Packung schob.
"Los, erzähl mir was über dich.", forderte er Gabriel dann auf und lehnte sich, einen Keks in der Hand, zurück.

Überrascht blinzelte Gabriel Lynn an, und musste unwillkürlich lächeln.
Sein Herz klopfte etwas schneller, und Erleichterung machte sich in ihm breit.
Glücklich lenkte er Pete mit einem Cracker ab, und nahm sich selbst einen Schokokeks.
"Was möchtest du denn wissen?", fragte Gabriel und war so ziemlich bereit alles zu erzählen, was Lynn gerne hören würde.
"Ich bin halt... Gabriel. Ich geh noch zur Schule und lebe mit meinem Vater zusammen..."

"Alles was ich eben wissen muss", antwortete Lynn.
"Hast du Geschwister? Hautiere? Hobbys? Was magst du für Filme? Bücher? Musik? Wer sind deine Freunde? Wo gehst du gerne hin? Warum treibst du dich ständig alleine in der Gegend rum?"

Überrumpelt sah Gabriel den anderen an und knabberte weiter an seinem Schokokeks.
Dann machte er sich daran die Fragen zu beantworten.
"Also... ich habe keine Geschwister, keine Haustiere und keine Hobbys. Ich seh nie fern, und fürs Kino hab ich kein Geld, aber ich mag gerne Fantasybücher und... ziemlich viel Musik. Ich hab nur einen Freund, er ist gerade erst aus Amerika wieder hierher gezogen... ich geh gern in den Park, zumindest im Sommer, und ich treibe mich alleine herum, weil ich nicht zuhause sein mag und aus mehreren Gründen eben keine Freunde hab.". erklärte er und holte tief luft.

Wieder zog Lynn seine Augenbraue hoch.
"Und hast du auch ein Leben?", fragte er ruhig.

"Ein Leben?", fragte Gabriel verunsichert.
Was meinte Lynn bloß damit?
"Ich... ich glaube schon... ich... bin doch hier, oder? Also... Ich... keine Ahnung...", schloss Gabriel seinen Satz und schaute ein bisschen wie ein Auto.

Lynn seufzte und schüttelte langsam den Kopf.
Der Kleine war wirklich so, wie er aussah.

Er blieb bis zum Abend, sie bestellten Pizza, spielten mit Pete und unterhielten sich über belanglose Dinge.
Um neun Uhr, packte Lynn schließlich seine Sachen und sie verließen gemeinsam die Wohnung.
Einige Straßenecken vor der Bar, verabschiedeten sie sich und Lynn machte sich auf den Weg zur Arbeit.
Hoffentlich kam der Kleine nicht auf dumme Gedanken...

Gabriel genoss die Zeit mit Lynn, und je mehr sie sich unterhielten desto sichtlicher blühte Gabriel auf.
Mit viel mehr Appetit als sonst machte er sich über die Pizza her, und als er mit Lynn zusammen die Wohnung verließ tappste er brav nach Hause.
Leise schlich er in sein Zimmer.
Das wäre jedoch nichteinmal nötig gewesen, denn aus dem Wohnzimmer drang lautes Schnarchen.
Gabriel lag noch lange wach und dachte an die gemeinsame Stunden mit Lynn.
Am nächsten Tag stand er schon mittags wieder vor Lynns Tür und klingelte nervös.
Er hatte es zuhause nicht mehr ausghalten.
Sein Vater war noch immer mies gelaunt, und scheinbar hatte er keinen Alkohol mehr im Haus...
Statt zur nächsten Tankstelle war Gabriel jedoch auf direktem Wege zu Lynns Wohnung gelaufen.
Er hatte seinem Vater gerade eben entwischen können.

Lynn wurde unsanft aus dem Schlaf gerissen, als irgendetwas Schrilles in seine Ohren drang.
Er registrierte, dass es sich um die Türklingel handelte und wühlte sich murrend aus dem Bett und tapste, verschlafen und nur in Boxershorts bekleidet zur Tür.
Er öffnete sie und blinzelte verpennt in zwei bekannte grüne Augen.
"Was willst du denn schon wieder hier?", fragte er nuschelnd und gähnte ausgiebig.

"Ich möchte rein", murmelte Gabriel unglücklich.
Nach all der Zeit tat es noch immer weh, wenn sein Vater ihn anbrüllte und beschimpfte, da war es ihm viel lieber wenn er ignoriert wurde.
"Tut mir leid, dass ich dich geweckt hab... ich... kann auch wieder zurückgehen... also... weg... meine ich."